Märchen
"Es war einmal" oder "als das Wünschen noch geholfen hatte" und "wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!" Märchen haben bis heute überlebt und Kinder lieben Märchen wie die Kinder der Vergangenheit. Auch in Zukunft wird es so sein!
"Macht auf, ich bin eure Mutter und bring euch Futter!!!"
"Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind. Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!"
" Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" und viele Sätze mehr, haben sich in unser Gedächtnis eingeprägt.
Volksmärchen sind Kulturgut und entstanden aus Situationen und Lebensbedingungen.
Märchen erklärten den Menschen die Welt in den Wohnstuben. Märchen waren und sind heute noch Unterhaltung und Philosophie. Märchen studieren bedeutet für mich "Nachdenken lernen", denn Märchen sind abstrahierte Weisheit aus vielen menschlichen Erfahrungen.
In diesem Zusammenhang sehe ich die therapeutische Wirkung der Märchen, denn im Nachdenken werden meine eingefahrenen Gehirnwindungen infrage gestellt und vielleicht verändert und erweitert. Märchen lassen uns nicht in Ruhe.
Vielleicht geht es Ihnen auch so!
Märchen als Metapher
Märchen sind bildhaft verschlüsselte Lebenserfahrungen vieler Menschen - Märchen sind Menschengeschichte.
In einem Sprachbild "Methapher" werden die Einzelheiten in Zusammenhang gebracht, die Situation wird abstrahiert und die Aussage in dieser Abstraktion konzentriert. Auf diese Art und Weise wird eine Situation nicht zerpflückt, sondern sie kann so geschlossen wiedergegeben werden und ermöglicht eine Aussage. Märchen sind demnach auch ein Stück Sprachkunst. Die nichtbenannten Einzelheiten sind im Gesamtbild - nichts geht verloren - jede Einzelheit behält ihre Wichtigkeit und fließt in die Gesamtheit. Methaphern erhalten so ihre Objektivität - die Situation ist vom Persönlichem abstrahiert, kann aber zurückübertragen werden. Die verschlüsselte Lebenserfahrung ist allgemeingültig und wird zur Lebensweisheit.
In Epochen treten auf Grund der Lebensbedingungen gehäuft Probleme auf. Das Märchen "Rumpelstilzchen" beschäftigt sich ganz konkret mit der Entfremdung der Frau und der Dominanz des Mannes. Das Märchen beschreibt eine Auswirkung des Patriarchats. Märchen beschreiben nicht nur die psychosozialen Probleme des Einzelnen, sondern werfen auch einen Scheinwerfer auf den Hintergrund.
Bildsprache
Die Märchensprache ist m.M.n. zu vergleichen mit der Traumsprache. In manchen Träumen abstrahiert der Mensch sein persönliches Befinden in Traumbilder. Viele Einzelheiten fügen sich in einem Bild zusammen. Bildsprache ist eine menschliche Ausdrucksform mit einer sehr wichtigen Funktion. Sie sorgt für Überblick, ist offen für persönliche Gefühle, nimmt die Vergangenheit auf, findet in der Gegenwart statt und weist in die Zukunft hinein. Sie hebt die Persönlichkeit des einzelnen nicht auf, sondern stellt das persönliche Erleben in einen übergeordneten Zusammenhang.
Aus diesem Grund traue ich mich, meine persönlichen inneren Bilder in das Märchen zu legen und auch an das Märchen zurückzugeben.
Umgang mit den Märchen
Märchen auf Geschichten für Kinder zu beschränken, ist schon lange überholt. Ich meine, daß nur bestimmte Märchen für Kinder geeignet sind. Seit ich mich näher mit Märchen befasse, bin ich mit der Auswahl sehr vorsichtig geworden. Märchen können helfen, aber auch ängstigen, überfordern, abschrecken und gefährden, auch Erwachsene. Märchen können Prozesse auslösen, da ihre Symbole und Metaphern auf Menschen wirken. Wir Menschen sind nicht diese unabhängigen Individuen, die wir gerne sein möchten. Wir reagieren auf das Alphabet der Kultur. Die Entdeckung der Märchen als Therapiemöglichkeit wirft viele Fragen auf. Meiner Meinung nach sind Märchen dahingehend noch nicht genügend erforscht. Es eine genaue analytische Arbeit ist notwendig.
Der Märchenrahmen
Die Metapher der Hochzeit
Der Spiegelungsprozess
Es war einmal ..... so beginnt ein Märchen und endet meist mit der Hochzeit .... und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende...!
Am Ende eines Weges findet die Hauptfigur den gegengeschlechtlichen Partner. Weiblich und männlich, die beiden Pole stehen sich gegenüber und finden abschließend eine glückliche Verbindung. Die Trennung hat sich aufgelöst, die Prüfungen sind bestanden, und ein Ziel ist erreicht.
Durch die Hochzeit wird die Entwicklung der Märchenhauptfigur bestätigt.
Ich verwende in meinen Interpretationen für Hochzeit den Begriff der Spiegelung. Bis zum Zeitpunkt der Hochzeit spreche ich von Spiegelungsprozeß. In der Reaktion des Spiegels wird die Entwicklung der Hauptfigur sichtbar, bestätigt oder vorangetrieben. In diesem Spiegel kann ich die Befindlichkeit und auch den nächsten erforderlichen Entwicklungsschritt ablesen. Es geht im Märchen nicht um die Entwicklung der Paarbeziehung, sondern um den Reifeprozess der Hauptfigur.
Je würdevoller die Spiegelperson erscheint, wie z.B. der Zar bei Wassilissa, desto intensiver und weitreichender ist die Entwicklung der Hauptfigur zu bewerten.
Der Unterschied zwischen der Hochzeit der Müllerstochter und der Hochzeit der Wassilissa verdeutlichte mir, dass Hochzeit auch in der Gegensätzlichkeit zur Persönlichkeitsfindung als Persönlichkeitsentfremdung interpretiert werden kann. Die Müllerstochter wurde in eine vorgegebene Entwicklung gezwungen - ein negatives Hochzeitsgeschehen. Bei Wassilissa wurde ein positiver Hochzeitsprozess beschrieben
In diesem Hochzeitsrahmen verfolge ich den Märchenverlauf und richte meine Interpretation danach aus. Bei den einzelnen Schritten betrachte ich den Spiegel als Hinweis und als Kontrolle. Der Spiegel ist der Leitfaden, der rote Faden in dem Verlauf. Ich gehe diesem Faden einfach nur nach.
Diese Spiegelkonstruktion kann auch auf das Märchen "Der Wolf und die sieben jungen Geißlein" übertragen werden. Der Wolf ist der Spiegel der Geißenmutter - die Entwicklung des Guten ist im Spiegel des Bösen sichtbar. Der Spiegel Wolf löst sich auf und ist die Bestätigung des Guten.
Im Spannungsbogen der Gegenteiligkeit ereignet sich Entwicklung - vermutlich ein durchgehendes Erklärungsprinzip in der Märchenliteratur. Spannung sorgt für Impulse, Veränderung, Entwicklung und ist Lebendigkeit. (Heute steht dafür die Flut der Kriminalfilme
Märchengestalten
Von den 5 Märchen ist das Märchen "der Wolf und die sieben jungen Geißlein" für Kinder geeignet.
Rumpelstilzchen ist eine dubiose/ zwiespältige Figur. Sie verschlüsselt den Entfremdungsprozeß der Persönlichkeit. Die Auflösung der Figur ist für Kinder nicht nachvollziehbar.
Baba Jaga ist eine Figur zwischen Leben und Tod, eine geistige Größe, die Kinder noch nicht begreifen können. Eine Figur, die keinen festgelegten zugewiesenen Wohnort hat, kann Kinder, aber auch Erwachsene mit psychischen Abgrenzungsproblemen sehr beängstigen. Die Unterscheidung von Phantasie und Wirklichkeit ist Voraussetzung, diese Geschichten ertragen zu können.
Jeder von uns hat eine persönliche Beziehung zu Märchen. Märchen begleiten unsere Kindheit. Märchengestalten sind jedem bekannt. Jeder weiß etwas über Hexen, Zauberer, Zwerge, Prinzessinnen, Frösche, Wölfe, Feen und andere Figuren. In früheren Zeiten, märchenhaft gesprochen, als das Wünschen noch geholfen hat, wurden unerklärliche innere und äußere Prozesse einer Figur zugewiesen. Diese Projektion hat entlastet, den krisenhaften Prozeß entschärft, Handlungsmöglichkeiten gegeben und Erfolg gezeigt. In der heutigen Psychotherapie gibt es andere Mittel, sich z.B. von einem traumatischen Erlebnis zu distanzieren.
Hexen, Zauberer und andere böse Geistwesen verkörpern den krisenhaften Prozess. Sie sind die bildgewordene Gefahr. Gute Geister, Feen und Zwerge sind Gestalten für die positiven Prozesse, auf die man sich einlassen kann.
Kritik
Ich habe während meiner Arbeit die Märchen auch immer wieder argwöhnisch betrachtet und werde dies auch weiterhin tun. Ich möchte auch jeden Leser bitten, dies zu tun. Mit Märchen ist es m.M. nach wie mit Glaubensdingen. Alles, was man glauben möchte oder was fasziniert, sollte man genau betrachten, überdenken, bezweifeln und abwägen. Die geistige Auseinandersetzung darf nicht eingeschränkt oder abgenommen werden. "Glauben müssen" ist geistige Freiheitsberaubung und gegen die menschliche Würde. Das kulturelle Erbe in den Märchen darf und muß hinterfragt werden.
Ich finde Märchen spannend und interessant, möchte aber noch einmal betonen, daß in der geistigen Auseinandersetzung mit den Inhalten, die Wirkung der Aussage zu finden ist. Ich bezweifle, daß die psychotherapeutische Arbeit mit Märchen sinnvoll ist. Ich habe große Vorbehalte.
Symbole
Symbole wie Pferd, Spinnrad, Puppe, Brunnen usw... sind Wegweiser und führen durch den Prozeß. Wir reagieren auf Symbole - wir alle haben Symbolkenntnisse - es ist ein Teil unserer Kultur, eine stumme Sprache, eingebunden in die Bildsprache. Das Symbol findet Anklang und berührt den Einzelnen unterschiedlich stark. Es gibt Menschen, die sehr stark auf Symbole mit Bedeutungen reagieren und ihr Leben danach ausrichten und es gibt Menschen, die weniger stark reagieren. Gar nicht zu reagieren, halte ich für fast ausgeschlossen. Wie wir aus unseren heutigen Werbestrategien schließen können, wirken Symbole und Zeichen und werden gezielt eingesetzt. Symbole können positive und negative Auswirkungen haben. Der Aberglaube ist ein Produkt dieser Negativwirkung und Symbolfixierung. Der Mensch sollte sich Symbolen nicht ausliefern, sondern sollte auch versuchen, die Absicht der Symbolisierung zu erkennen. Die Wahlmöglichkeit ist Schutz vor Symbolmissbrauch. Dieses Thema wird leider in unserer Gesellschaft nicht aufgegriffen, obwohl es hochbrisant wäre.
Zu diesem Thema gibt es in dem Projekt " der Tod des kleinen Prinzen" einen ausführlichen Aufsatz.